"Die Netzwende ist der Flaschenhals der Energiewende" - Fachartikel von Dr. Thomas Becker im energate-Magazin

Das H₂-Kernnetz ist das Rückgrat der Transformation hin zu einem nachhaltigen, verlässlichen und stabilen Energiesystem. Gleichzeitig wird aktuell immer stärker deutlich: Netze allein schaffen keinen Markt. Auch Angebot und Nachfrage müssen mitziehen. Welche nächsten Schritte nun für die Energiewende notwendig sind und warum es dabei weiter politischen Rückenwind braucht, erläutert unser Kaufmännischer Geschäftsführer Dr. Thomas Becker in seinem Fachbeitrag in der aktuellen Ausgabe des energate-Magazins.

Dr. Thomas Becker, Kaufmännischer Geschäftsführer der Thyssengas GmbH

Die Energiewende entscheidet sich nicht nur an den Standorten der Energieproduktion, sondern insbesondere auch in den Leitungen, die Erzeugung und Nachfrage zusammenbringen. Die Strom-, Gas- und künftig Wasserstoffnetze müssen konsequent auf diese neuen Anforderungen ausgerichtet werden. Die Fernleitungsnetzbetreiber tragen dabei besondere Verantwortung für ein Gastransportsystem, das Klimaneutralität, Versorgungssicherheit und Resilienz zugleich gewährleistet. Ein Schlüsselprojekt dabei ist das Wasserstoff-Kernnetz.

Die Energiewende verlangt von den Fernleitungsnetzbetreibern (FNB) doppelten Einsatz: Heute sorgen ihre Netze für eine verlässliche Erdgasversorgung. Zugleich gestalten sie die Zukunft, indem sie mit dem Wasserstoff-Kernnetz die Basis für eine klimaneutrale Gasversorgung schaffen. Drei Ziele prägen diesen Transformationsprozess innerhalb der Energiewende: Klimaneutralität, Versorgungssicherheit und Resilienz. 

Klimaneutralität: Wasserstoff als Schlüssel, das H2 -Kernnetz als Fundament 

Viele industrielle Prozesse lassen sich nicht einfach per Umlegen eines Schalters dekarbonisieren. Wasserstoff ist hier der Schlüssel: Er ermöglicht CO2 -Reduktion dort, wo Elektrifizierung physikalische oder wirtschaftliche Grenzen erreicht. Dies ist etwa in der Stahlproduktion, der Chemieindustrie oder im Schwerlastverkehr der Fall. Allein im Stahlsektor lassen sich mit jeder Tonne grünem Wasserstoff rund 28 Tonnen CO₂ einsparen. Um das Potenzial des Energieträgers Wasserstoff zu realisieren, bauen die FNB derzeit die nötige Infrastruktur: Das deutschlandweite Wasserstoff-Kernnetz. Es verbindet Erzeugungsstandorte, Importpunkte, Speicher und große Verbrauchszentren auf rund 9.040 Kilometern. Neue Nord-Süd- und West-Ost-Achsen schaffen die Grundlage für eine flächendeckende Wasserstoff-Versorgung. Mit dem Aufbau der Transportinfrastruktur gehen die FNB gezielt in Vorleistung, um den Wasserstoffhochlauf zu ermöglichen

Versorgungssicherheit: Heute verlässlich liefern, morgen effizient umbauen 

Das Fernleitungsnetz ist seit Jahrzehnten das Rückgrat der Energieversorgung: Es bewegt große Energiemengen zuverlässig über weite Distanzen und verbindet Importpunkte, Speicher und industrielle Zentren. Dieses Netz ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern ein Standortvorteil für die Zukunft. Denn es lässt sich weiterentwickeln, anpassen und in großen Teilen auf klimaneutrale Gase umrüsten. Der Übergang zur Wasserstoffwirtschaft erfordert Zeit. Erdgas bleibt trotz des wachsenden Einsatzes von Wasserstoff in den kommenden Jahren unverzichtbar. Deshalb setzen die FNB auf eine Doppelstrategie: Die stabile Erdgasversorgung von heute sichern und die Netze gleichzeitig schrittweise H₂-ready machen. Für die Wasserstoffzukunft werden derzeit neue Transportverbindungen geplant und gebaut, Schnittstellen zu Importterminals und Speicherstandorten geschaffen und bestehende Leitungen so angepasst, dass sie nahtlos in das zukünftige Wasserstoffsystem integriert werden können. 

Resilienz: Die unterschätzte Systemversicherung 

Das künftige Energiesystem muss nicht nur effizient, sondern auch robust und krisenfest sein. Resilienz bedeutet, dass die Energieversorgung nicht von einer einzelnen Leitung, Technologie oder Lieferkette abhängen darf. Mehrere Pfade, Redundanzen und Flexibilität müssen sicherstellen, dass Energie auch dann fließt, wenn es zu Störungen kommt. Genau hier leisten Gas- und künftig auch Wasserstoffnetze einen entscheidenden Beitrag. Sie stabilisieren unser Energiesystem als wichtiger Puffer: Zum Beispiel bei Schwankungen in der Stromerzeugung aus Wind und Sonne oder wenn das Stromnetz in seiner Funktion gestört ist. Wasserstoff kann besonders flexibel eingesetzt werden. Viele potenzielle Importquellen und eine breite inländische Produktion sorgen für Diversifizierung und damit Unabhängigkeit – ein wichtiger Baustein für Resilienz. Der Umbau und die Modernisierung der Infrastruktur sind damit weit mehr als ein Bauprojekt: Sie sind ein Sicherheitsprojekt. In einer Welt geopolitischer Spannungen wird eine resiliente, diversifizierte und krisenfeste Energieversorgung zum strategischen Vorteil. Gleichzeitig ist sie ein zentraler Standortfaktor für die Industrie. Auch Biomethan spielt dabei eine wichtige Rolle: Es ergänzt das System als flexibel einsetzbarer Energieträger, der Versorgungslücken schließen und zusätzliche Steuerbarkeit schaffen kann.

Die Marktentwicklung hinkt der Netzentwicklung hinterher

Infrastruktur allein schafft noch keinen Energiemarkt. Netze können geplant, Leitungen auf Wasserstoff umgestellt und neue Transportwege gebaut werden. Aber ohne Erzeugung und Nachfrage gibt es nichts zu verbinden. Genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich derzeit der H₂-Netzaufbau. Auch wenn mit der Genehmigung des H₂-Kernnetzes im Oktober 2024 der offizielle Startschuss gefallen ist und erste Projekte, Partnerschaften und Investitionen angestoßen wurden, lässt der Durchbruch bislang auf sich warten. Trotz positiver Signale herrscht in weiten Teilen der Energiewirtschaft und Industrie noch große Unsicherheit. Viele Akteure zögern, Investitionen werden verschoben, Geschäftsentscheidungen vertagt. Was fehlt, ist ein verlässlicher Rahmen: Klare Spielregeln und politischer Rückhalt, die den Entscheidern eine wirtschaftliche Perspektive für ihre Investitionen eröffnen. Dabei sind es derzeit gleich mehrere Faktoren, die den Wasserstoffhochlauf ausbremsen: EU-Regeln erschweren die Produktion von grünem Wasserstoff, Vorgaben für Low-Carbon-Fuels drohen den Einsatz von blauem Wasserstoff frühzeitig einzuschränken. National fehlen ebenfalls wichtige Leitplanken: Von der H₂-Readiness bei Kraftwerken über eine konsistente CCS-Strategie bis hin zu effektiven Fördermechanismen. Hinzu kommt, dass Wasserstoff derzeit deutlich teurer ist als Erdgas. Ohne das notwendige Commitment auf der Abnehmerseite werden Anbieter keine Entscheidungen für den Bau von Elektrolyseuren oder den Abschluss langfristiger Importverträge treffen. Für die FNB bedeutet das ein Dilemma: Planen und bauen sie das Wasserstoff-Kernnetz zu früh und zu groß, steigen die Kosten und damit die Risiken. Planen sie zu klein, bremst die fehlende Infrastruktur den Markt, bevor er überhaupt Fahrt aufnimmt. Das Ergebnis ist ein Schwebezustand. Solange Angebot, Nachfrage und Infrastruktur nicht besser aufeinander abgestimmt sind, bleibt der Wasserstoffhochlauf fragmentiert. Der notwendige Marktdurchbruch bleibt aus. Ein funktionierender Wasserstoffmarkt kann nur entstehen, wenn neben dem H₂-Kernnetz auch in Erzeugungs- und Importinfrastruktur investiert wird. Abnehmer benötigen eine verlässliche Versorgung und damit Planungssicherheit über viele Jahre hinweg. Dafür ist jetzt vor allem die Politik gefordert. 

Politischer Rückenwind oder nur ein laues Lüftchen? 

Das Problem des H₂-Hochlaufs ist längst bekannt. Spätestens seit die Tagesschau im Sommer titelte „Wasserstoff-Boom lässt auf sich warten“, steht fest: Es fehlt nicht an Erkenntnis, sondern an Konsequenz. Nach dem jüngst präsentierten Monitoringbericht zur Energiewende braucht es jetzt dringend notwendige politische Rahmensetzungen. Immerhin: Der 10-Punkte-Plan (Anm.: Das Thema H₂ wird in Punkt 9 behandelt) des Bundeswirtschaftsministeriums ist ein erster Schritt weg vom Wasserstoff-Hype hin zu mehr Effizienz, weniger Komplexität und wirtschaftlicher Vernunft. Ausdrücklich zu begrüßen ist der angekündigte Blick auf das Gesamtsystem. Diese Kurskorrektur ist richtig: Der H₂-Hochlauf muss fokussierter, realistischer und kosteneffizienter werden, wenn er langfristig tragfähig sein soll. Dabei darf Kosteneffizienz jedoch nicht zum Selbstzweck werden, Förderung sich nicht nur auf punktuelle Einzelmaßnahmen beschränken. Ein neuer energiepolitischer Kurs, wie im vorgelegten 10-Punkte-Plan skizziert, ist noch kein ganzheitlicher Regulierungs- oder Förderrahmen. Es braucht jetzt dringend eine Konkretisierung und eine zielgerichtete sowie breite staatliche Unterstützung, um Planungs- und Investitionssicherheit zu schaffen und damit Angebot, Nachfrage und Infrastruktur zusammenzuführen. 

1. Kapitalmarktfähige Investitionsbedingungen Damit das Wasserstoff-Kernnetz und andere Schlüsselprojekte Realität werden, muss privates Kapital in großem Umfang mobilisiert werden. Dafür braucht es jedoch verlässliche, attraktive und kapitalmarktfähige Rahmenbedingungen, die Investoren Sicherheit und eine realistische Renditeerwartung bieten. Mit den aktuellen Rahmenbedingungen ist die Rendite-Risiko-Relation im Vergleich zu den Anlagealternativen nicht attraktiv. Auch hier muss die Politik jetzt ansetzen. Zugleich sollte der Finanzierungsrahmen mit Weitblick ausgestaltet werden: Er darf sich nicht allein auf große Leitungsvorhaben konzentrieren, sondern muss auch regionale Netzanschlüsse und grenzüberschreitende Verbindungen fördern. Nur so kann ein integriertes und skalierbares Wasserstoffnetz entstehen, das Erzeugung, Import, Speicherung und Verbrauch zuverlässig verbindet. 

2. Angebot: Produktion konsequent fördern Ein wettbewerbsfähiges Angebot ist Voraussetzung für einen funktionierenden Wasserstoffmarkt, Versorgungssicherheit und geopolitische Resilienz. Der Aufbau eines neuen Marktes gelingt nicht mit punktuellen Maßnahmen, sondern erfordert eine strategische, koordinierte Förderung. Der 10-Punkte-Plan nennt wichtige Hebel: eine bessere Importstrategie, mehr heimische Elektrolysekapazitäten und technologieoffene Förderansätze. Jetzt kommt es darauf an, daraus konkrete Maßnahmen mit klaren Zeitplänen zu machen. Es braucht verlässliche Energiepartnerschaften mit Lieferländern, langfristige Abnahmeverträge und politische Absicherungen, die Investoren Vertrauen geben. Gleichzeitig muss der Ausbau der heimischen H₂-Produktion massiv beschleunigt werden – mit schnelleren Genehmigungen, mehr Elektrolyseuren und deutlich mehr erneuerbarem Strom. Pragmatischere Kriterien für grünen und CO₂-armen Wasserstoff sind zwingend erforderlich, um Kosten zu senken und Mengen schneller auf den Markt zu bringen. 

3. Nachfrage: Leitmärkte schaffen, Investitionen auslösen Ohne verlässliche Nachfrage bleibt selbst ein gut ausgebautes Angebot wirkungslos. Heute ist Wasserstoff noch deutlich teurer als Erdgas. Ohne gezielte politische Unterstützung bleibt ein liquider H₂-Markt Zukunftsmusik. Der 10-Punkte-Plan nennt erste Instrumente, doch sie sind noch zu vage und zu klein gedacht. Was es braucht, sind klare Signale: Abnahmegarantien und Preisabsicherungen, die Unternehmen Planungssicherheit geben. Nur wenn die Industrie weiß, dass sich der Umstieg lohnt, wird sie Produktionsprozesse umstellen. Leitmärkte in Branchen wie Stahl und Chemie können zusätzlich helfen, Skaleneffekte zu erzielen und Kosten zu senken. Förderinstrumente wie Klimaschutzverträge, H₂-Clusterförderung, Doppelauktionen oder Ausschreibungen für H₂-ready-Kraftwerke müssen jetzt schnell und entschlossen kommen. Genauso wichtig ist ein EU-Regelwerk, das technologieoffen und investitionsfreundlich gestaltet ist. Nur so können Angebot und Nachfrage gemeinsam wachsen. 

4. Übergang absichern – Erdgasnetz weiterentwickeln Auch wenn Wasserstoff und andere grüne Gase die Zukunft sind, bleibt Erdgas in der Übergangsphase unverzichtbar. Es sichert Energie für Industrie und Haushalte und stabilisiert den Strommarkt, solange erneuerbare Energien und Wasserstoff nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Deshalb braucht es einen wirtschaftlichen Weiterbetrieb der bestehenden Infrastruktur sowie gezielte Aus- und Umbaumaßnahmen. Dazu zählen Netzverstärkungen für Umstellungen auf Wasserstoff, gegebenenfalls zusätzliche Kapazitäten für die geplanten Gaskraftwerke und Ersatzinvestitionen für ältere Leitungen, die noch bis 2045 benötigt werden. Der laufende NEST-Prozess der Bundesnetzagentur sowie die Weiterentwicklung der Anreizregulierung muss dabei über reine Kostensenkungen hinausgehen. Der regulatorische Rahmen soll Investitionen ermöglichen, Planungssicherheit schaffen und den Netzbetreibern ausreichend Spielraum geben, um regionale Bedürfnisse und industrielle Entwicklungen zu berücksichtigen.

Fazit: Es geht nur gemeinsam 

Die FNB gehen beim Aufbau des H₂-Kernnetzes in Vorleistung. Doch sie können nicht „ins Blaue hinein“ bauen: Nur wenn Erzeugung und Nachfrage gesichert sind und verbindliche Abnahmezusagen vorliegen, können die FNB richtig Tempo machen. Infrastruktur allein führt nicht zu dringend notwendigen CO₂ -Einsparungen. Damit die Transportnetze zu echten Lebensadern der Klimatransformation werden, müssen Politik, Regulierung und Markt ihren Teil beitragen. Es braucht verlässliche Rahmenbedingungen, damit Kapital fließt. Schnellere Genehmigungen, damit Projekte Realität werden. Und industriepolitische Entscheidungen mit Weitblick, damit Wasserstoff von einer Vision zur wirtschaftlichen Grundlage wird. Ohne Wasserstoff wird die industrielle Dekarbonisierung in Deutschland und Europa nicht gelingen. Das Wasserstoff-Kernnetz ist der Schlüssel dazu. Wer Klimaneutralität wirklich will, muss sie auch politisch ermöglichen – mit Mut, Klarheit und Tempo. Nur wenn wir heute handeln, wird Deutschland morgen klimaneutral, wettbewerbsfähig und resilient.

 

Den gesamten Artikel zum Nachlesen und zum Download finden Sie auch hier:
Fachbeitrag Dr. Thomas Becker bei energate

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