Mehr Tempo für einen nachhaltigen Energiemix
Karin Arnold vom Wuppertal Institut und Thyssengas-Geschäftsführer Thomas Gößmann im Zwiegespräch über die grüne Transformation des Ruhrgebiets, unternehmerische Verantwortung und den Blick in das Jahr 2035.
Frau Arnold, in der Studie des Wuppertal Instituts geht es unter anderem um die Frage, ob das Ruhrgebiet das Potenzial hat, bei der grünen Transformation der Industrie ein Vorreiter zu sein. Wie lautet Ihre Antwort?
Karin Arnold: Ich habe gerne an der Studie mitgearbeitet, weil ich selbst auch ein Kind des Ruhrgebiets bin. Ich sehe mich oft mit Skepsis von Menschen konfrontiert, die sagen: Bei euch ist alles grau, überall liegt der Kohlenstaub. Ich erkläre in diesen Fällen immer, dass das schon sehr, sehr lange her ist.
Was den Titel der Studie „Grünste Industrieregion der Welt“ angeht, so beschreibt dieser ein Ziel – wobei die Kriterien für „grün“ über das Ökologische weit hinausgehen. Es geht um alle Dimensionen von Nachhaltigkeit – von der ökologischen über die soziale bis hin zur ökonomischen Dimension. Was nachhaltig ist, muss auch wirtschaftlich sein. Das ist kein Widerspruch. Wir sehen, dass sich die Industrie hier in NRW auf den Weg gemacht hat, doch es ist noch einiges zu tun.
Welche Maßnahmen sehen Sie als vordringlich an?
Karin Arnold: Es geht vor allem darum, Tempo aufzunehmen. Wir müssen schneller und besser werden. Dafür braucht es einen geeigneten regulatorischen Rahmen, den die Politik jetzt schnell schaffen sollte. Die fehlende Regulatorik ist aktuell einer der größten Bremser.
Herr Gößmann, das sind sicherlich Punkte, die Ihnen vertraut vorkommen, insbesondere das Thema Genehmigung. Wo sehen Sie mit Blick auf unsere Industrie, aber auch generell die größten Hebel, um die grüne Transformation zu erreichen?
Thomas Gößmann: Ich möchte nochmal einen Schritt zurückgehen. Ohne Industrieproduktion gibt es keinen Wohlstand, ohne Nachhaltigkeit keine Lebensgrundlage. Der Zusammenhang zwischen Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit ist klar. Wir als Fernleitungsnetzbetreiber sind die Unterstützer, die Möglichmacher einer grünen Energietransformation. Hingegen entscheiden wir nicht, welche Prozesse umgestellt werden oder wie grüne Produktion ausschaut. Unsere Rolle ist es, gasförmige Moleküle zu transportieren. Worum es mir bei der Dekarbonisierung unseres Energiesystems insbesondere geht, ist die Geschwindigkeit. Wir müssen das Tempo hochhalten, wenn wir in Deutschland das Ziel erreichen wollen, bis 2045 klimaneutral zu sein.
Nun hat das Ruhrgebiet bereits bewiesen, dass es Strukturwandel kann. Es ist vertraut mit Transformationsprozessen. Hat unsere Region daher einen Vorteil gegenüber anderen, die solcherlei Erfahrung nicht haben?
Karin Arnold: Ich dachte bei der Erstellung der Studie tatsächlich: Ja, dass wir Wandel können, haben wir in der Vergangenheit unter Beweis gestellt. Als wir jedoch mit Bürgermeistern aus dem Ruhrgebiet gesprochen haben, war das Bild durchaus differenzierter. Offenbar haben viele den tiefgreifenden Strukturwandelprozess durchaus ambivalent erlebt.
Was die Energiewende insgesamt angeht, handeln viele Menschen nach der Devise: „Not in my backyard“. Das heißt, alle sind für die Energiewende, aber niemand möchte, dass eine Leitung am eigenen Grundstück entlangführt. An dieser Stelle wird eines ganz deutlich: Die Verknüpfung von einem allgemein akzeptierten Ziel mit konkreten Schritten scheint noch nicht ganz in den Köpfen angekommen zu sein. Daher ist es wichtig, immer und immer wieder in den Dialog zu gehen und notwendige Schritte zu erklären!
Einen großen Beitrag zur grünen Transformation kann Wasserstoff leisten. Wie sieht Ihrer Ansicht nach der Energiemix in der Zukunft aus?
Thomas Gößmann: Ich glaube, dass wir ohne blauen Wasserstoff, der aus Erdgas entsteht, und ohne CCS, also die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid, unser Ziel nicht erreichen werden. Wir brauchen eine Mischung aus erneuerbarer Energie, aus Biogas, sowie aus grünem und blauem Wasserstoff – eine Mischung, die uns eine wettbewerbsfähige Wirtschaft ermöglicht.
Karin Arnold: Es wird langfristig in Richtung grünem Wasserstoff gehen. Doch ich denke auch, dass wir zwischenzeitlich ohne CCS nicht auskommen werden. Wo unvermeidbare Emissionen entstehen – zum Beispiel Prozessemissionen aus der Stahlindustrie, der Zementindustrie oder der Müllverbrennung – wird es nicht vollständig ohne eine CO₂-Lagerstätte gehen. Zudem existiert keine Blaupause, die allen Regionen gerecht werden würde: Es gibt Regionen, in denen wir in absehbarer Zeit keine Pläne für eine große Wasserstoff-Leitung sehen und wo es rein systemisch gedacht auch keinen Sinn ergibt. Für solche Regionen müssen wir alternative Antworten finden, damit Unternehmen auch dort nachhaltig wirtschaften können.
Mit Blick auf die Nachhaltigkeitsverantwortung von Unternehmen: Wo sehen Sie generell Verbesserungspotenzial und wo speziell von Thyssengas als Infrastrukturbetreiber?
Karin Arnold: Natürlich ist es an jedem Unternehmen, Verantwortung dafür zu tragen, dass das Leben auf diesem Planeten weiterhin möglich und angenehm sein wird. Wir erleben, wie sich die Industrie in Deutschland und den entwickelten Ländern in Richtung Nachhaltigkeit transformiert. Wir sehen hier eine Kultur der Verantwortung.
Herr Gößmann, wo sehen Sie Thyssengas als Unternehmen im Jahr 2035?
Thomas Gößmann: Wir leisten unseren Beitrag zur Energiewende und möchten mit Ideen und Kreativität punkten. Wir haben jetzt schon eine Strategie für unser Wasserstoff-Netz entwickelt. Wir gehen in Vorleistung, weil wir ganz sicher sind: Früher oder später werden wir klimaneutrale Gase transportieren. Aus meiner Sicht führt kein Weg daran vorbei. Als Verantwortlicher möchte ich dem Unternehmen und mir nicht vorwerfen lassen, quer an der Tür zu liegen.
Wir möchten aktiv einen Beitrag für die Nachhaltigkeitsziele und die grüne Transformation leisten – wohlwissend, dass dies auch der Sicherung unseres Geschäftsmodells dient. Wenn alles rund läuft und die Genehmigungen schnell kommen, werden wir 2035 relativ weit sein: Wir werden 1000 Kilometer Wasserstoff-Leitungen, etliche hundert Kilometer für Biogas und auch noch einige Erdgasleitungen haben. All diese Gase wollen wir weiterhin sicher und zuverlässig transportieren. Das ist meine Zukunftsidee.
Dr.-Ing. Karin Arnold
ist Co-Leiterin des Forschungsbereichs Systeme und Infrastrukturen am renommierten Wuppertal Institut. Sie ist eine der Autor:innen der Studie zur Transformation der Metropole Ruhr zur „Grünsten Industrieregion der Welt“. Darin schätzen die Forschenden die Vorreiterpotenziale der Metropole Ruhr ein und benennen Schlüsselmaßnahmen für eine grüne Transformation der Industrieregion.